Essay – Shortstory

 

 

Nicht hier, auch nicht dort

 

Die Nacht war mond- und sternenlos. Der Himmel verhangen, es sollte bald schon wieder regnen. Der Asphalt der Straßen glänzte noch immer vom letzten Regenschauer vor einigen Stunden.
Die Arbeiterstadt schlief um diese Zeit längst, obwohl es erst kurz nach Mitternacht war. Wenige Herumstreifende, die in den Nebenstraßen verschwanden, als wären sie nichts als Gespenster, als hätten sie nichts zu sagen, nichts zu tun. Die Cafes, in denen noch vor einigen Stunden Hochbetrieb herrschte, waren jetzt nur noch leere Räume mit Stühlen auf den Tischen und schmutzigen Böden.
In solcher Arbeiterstadt kann man verrückt werden, ohne dass man es bemerkt. Der Strom der Tage lässt einen ertrinken in dieser Hoffnungslosigkeit - und irgendwann gleicht ein Tag dem anderen. Alleine die Jahreszeiten verändern sich, doch ihr Kommen und Gehen ist so zögerlich, dass selbst dies kaum mehr für Aufregung sorgt.
Niemand fühlt mehr Schmerz, niemand sieht die Toten.
Vielleicht wollten sie nichts anderes, als auf den Regen warten. Im Regen, so heißt es, kann man die Gespenster sehen. Nicht nur erahnen, sondern wirklich mit eigenen Augen sehen, als hätte man für einige Momente andere Augen, andere Gesichter, andere Leben. Es war gut und es war genug, Nirgendwo zu sein. Scheinbar am Ende der Welt, inmitten des Schlafes der Tagesmenschen, versteckt zwischen vier Bäumen und den Gespenstern darin. Im Auto war es inzwischen kalt geworden, so kalt wie an einem Dezembertag, obwohl es längst Frühling geworden war. Windböen, die an den Ästen zerrten und die Äste, die Schatten auf den rissigen Asphalt des leeren Platzes malten; verrückte Kinderzeichungen, die von einer Sekunde auf die andere wieder verschwanden.
Leonard Cohen aus dem Radio, so leise, dass man ihn kaum noch hörte.
Die meisten Dinge des Lebens sind verwinkelte Episoden, dunkle und helle zugleich. Es ist schwer ihnen zu folgen. Vielleicht, und dass dachte er sich in den Sekunden, als er die Augen schloss, war das Leben zu Ende, sobald die Kindheit mit den vergessenen Schuhen vor dem Haus davonging, jeden Tag ein wenig länger. Danach erscheinen nur noch die Geister der Zukunft, um sich mit den Geistern der Vergangenheit zu versöhnen. Nur mehr Schatten, die ein Leben zeichnen, um von den Traumfängern  der schlaflosen Nächte verschont zu bleiben.
Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und er spürte ihren Atem auf seinem Armen. Blitzlichtaufnahmen von Dingen, die man als Kind sehen kann. Nur als Kind, danach sind es nur noch verblasse Fotografien, verschwommen die Erinnerungen. Als Kind wollte er um die Welt gehen, als würde die Welt nur so groß sein wie man es sich wünschte.
Heute wollte er nur noch schlafen,  Tausende von Tagen schlafen um das Leben zu vergessen. Sie wachen auf und haben Tumore im Kopf, sie wachen auf und haben Leukämie. Sie wachen auf und heute noch sind sie dein Freund, geliebter Freund, und morgen sind sie nichts anderes mehr als Vergangenheit.
Alles in allem nur ein Suchen nach den Gespenstern in den Bäumen, wenn der Regen kommt.
Senkte seinen Kopf, um ihre Stirn zu küssen. Heute Nacht stand er mit ihr im Regen, und die Regenschirme waren zerbrochen, verborgen und vergessen - so wie ihre Leben, ihre Tage, ihre Vorstellungen vom Glück. Nichts mehr war von Bestand, außer das Schlagen ihrer Herzen und die Küsse zwischen ihnen. Der Verdacht einer Lüge klopfte mit dem Regen an das Dach, und zerrann mit dem Wasser, das den Asphalt dunkel malte. Er spürte ihr Misstrauen und er schwieg, um das Misstrauen zu verschlucken. Menschen kommen und gehen, Freunde kommen und gehen, und manches Mal, wenn man sehr viel Glück hat, begegnet man Zwielicht-Gestalten. Sie sind anders, weil sie nicht das Glück suchen, sondern das Glück mit ihren Atemzügen ein- und ausatmen. Er atmete es ein, und wusste, wie sehr viel Glück er gehabt hatte. Sie wissen nichts von ihrer Gabe, und es ist gut so. Peter Pan und Wendy fliegen nach Hause, fliegen nach Nimmerland, sobald so etwas geschieht. Bob Dylan spielt Not dark yet in einer dunklen Ecke, und es ist noch nicht Zeit zu sterben.
Er war ein glücklicher Mann.

 

 

 

 

I LOVE THIS DAY

 

1
Sie nannten ihn Raucher. Selten bei seinem Vornamen, manches Mal bei seinem Nachnamen, der nicht besser und nicht schlechter war als jener oder dieser Name. Für eine Weile hätte er jeder sein können auf dieser Welt, hätte ein Tom Waits oder ein Martin Scorsese, ein Bob Dylan oder wirklich ein Niemand sein können. Er schrieb schreckliche Gedichte und malte schreckliche Bilder. Wenn der Herbst kam wurde er schrecklich depressiv, und zu Weihnachten schrecklich melancholisch. Wenn er einen Carl-Ludwig Reichert Song hörte, war ihm fast danach zu sterben.
Seine Wege waren verstreut zwischen den Bahngleisen und hinter den Hügeln, seine Träume gekritzelt auf Kieselsteinen, dort und da in den Fluss geworfen.
2
Sobald der Regen niederfiel, durch die Bäume auf ein jedes Leben, war es, als wären alle Alten hungrig danach von dieser Welt zu gehen.  Auf jener Station, auf der Raucher arbeitete, schienen die meisten Alten des Krankenhauses zu sein, wenn nicht gar von der ganzen Stadt; liegend, sitzend, wartend, fluchend und dabei immer ein wenig mehr sterbend. Sie kamen, wurden wieder nach Hause gebracht, kamen wieder und wieder, bis man schließlich das Laken über ihr Gesicht streifte und den kleinen Zettel über ihren großen Zeh. Rauchers Zivildienst hatte gerade erst einmal angefangen, doch er hatte schon mehr Tote gesehen als in den dunkelsten Träumen seiner Kindheit. Damals, als ihn sein Vater noch geschlagen hatte, drei Ohrfeigen für Widersprechen, fünf Hiebe mit dem Gürtel für zu spät kommen. Die Träume danach wurden von eigenartigen Gestalten bevölkert - keine Engel gewiss, mehr Mörder und mehr tot als lebendig. Die Patienten starben im Bett, auf dem Flur, im Stuhl vor dem Essen, auf der Toilette oder sonst irgendwo. Es gab keinen Ort, wo sie nicht starben. Es gab keine Vampire oder Untote, doch der schleichende Tod war schlimmer und grausamer als alles Denkbare einer Horror-Freak-Mitternachtsvorstellung. Keine Feiertage, kein Weihnachten, kein Neujahr - alles in allem ein Warten im Wartezimmer ohne Illustrierte und ohne Raucherecke, ein Zuwarten mit dem Tod im Genick, hoffend, dass er schnell kommen würde und gnadenlos, zuschlagend von einer Sekunde auf die andere. Draußen starb man so. Egal ob der Regen fiel oder nicht. Draußen starb man von einer Sekunde auf die andere. Verkehrsunfälle, Dinge die einfach geschahen. Hier war es etwas anderes. Hier galt das Gesetz von Sedativa und kein Arzt kam ohne Gummihandschuhe, um die Augenlider nach unten zu drücken, wenn es soweit war.
3
Joseph C. war ein Geschichtenerzähler und Geiger gewesen. Nach dem Krieg hatte er in schäbigen Wirthäusern in und um München herum Auftritte gegeben. In Giesing hatte er seine Frau kennengelernt, die zwölf Jahre später mit einem Kellner durchbrannte und nie wieder gesehen war. Seitdem war Joseph immer alleine gewesen. Keine andere Frau, keine Liebschaften. Ein paar Freunde, mit denen er manches Mal Kinofilme mit Marlene Dietrich ansah, mehr nicht.
Als er mit 73 Jahren hierher kam, war er das erste Mal im Krankenhaus und als die erste Nacht vergangen war, wusste Joseph, dass er hier sterben würde. Nicht wie er es sich manches Mal ausgedacht hatte, zuhause, eine Frau neben seinem Bett, die Hand haltend, weinend und trauernd, die Flügel zerbrochen und auf die Reise gehend. Er würde hier sterben, an einem Regentag, alleine und ohne Musik, die Hände unter die Decke gesteckt und mit offenen Augen, während sie draußen auf dem Flur die noch Lebenden mit Schläuchen in ihren Körpern von Hier nach Da schafften und von Heilung murmelten, während sie den Tod von ihren Schultern wischten als wäre es nur Staub.
Die Geister waren hier, um seinen Atem zu stehlen.
4
Danzer war der erste, der dem Jungen nach einer Zigarette fragte, leise, krächzend. Verlegt in das Einzelzimmer der Station, jenes mit dem riesigen Kreuz an der Wand, wusste Danzer, was das alles zu bedeuten hatte. Nicht wegen der Ruhe, nicht wegen der besseren Lage und der schönen Aussicht. Es gab Tausende Auskünfte darüber. Er wusste, dass dies hier das Sterbezimmer war. Letzter Aufenthaltsort vor der Prosektur im Keller. Danzer dachte an seinen Vater, der Leichenbestatter gewesen war. Lügen erzählen konnte man ihm nicht. Es roch eigenartig hier, nach allem, nur nicht nach Leben. Gebunden an das Bett, das letzte Mal auf den eigenen Beinen vor drei Wochen, sah er das Ende kommen, und es kam schneller als er es sich je hätte erträumen lassen. Neben dem Bett standen ein paar Schuhe, die nicht ihm gehörten. Große Winterschuhe von Irgendwo.
“Junge!” hatte Danzer gesagt und zu Raucher geblickt.
“Junge, gib mir eine Zigarette!”
Natürlich hatte Raucher ihm erklärt, dass es völlig unmöglich sei, von wegen Brandgefahr und Rauchverbot im Zimmer, weil sie ja nirgendwo Rauchende wollen. Und natürlich war das alles vergebens gewesen, und er hatte ihm eine Zigarette gegeben, und Danzer hatte gelächelt,  fast schon gelacht, zufrieden und selig. Und er war gestorben nach dem dritten Zug, und Raucher hatte ihm die Zigarette aus dem Mund genommen, sie gelöscht im Waschbecken, hatte gelüftet und gewartet, und bevor er der Schwester Bescheid gab, hatte er ihm die Augen geschlossen, ohne Gummihandschuhe, und Danzer alles Gute gewünscht für die Reise und Grüße ausrichten lassen an alle, die ihn kannten.
Manches Mal waren die Gespenster nicht schnell genug für die hellen Träume.
5
Am 27. November dieses Jahres legten sie Joseph C. in das Einzelzimmer am Ende des Ganges. Seit fünf Tagen war er nicht mehr aus dem Bett gekommen, an seinem Steiß lag er sich auf. Krebs, Löcher in der Lunge vom vielen Rauch in einer sehr schlechten Zeit, habe er, und dass nichts mehr zu machen sei, außer abzuwarten. Als er fragte, auf was, hatte er keine Antwort erhalten, nur ein Nicken, dessen Schatten sich auf die schneeweiße Wand malte und die Nacht über blieb. Sie ließen Infusionen einlaufen, und natürlich wusste er, dass es nur Kochsalz war, was sie ihm gaben. Palliativ nannte sich das, so hatte es Joseph jedenfalls einmal in einer Zeitschrift gelesen vor vielen Jahren, und Schmerzmittel könne er haben, aber so weit war es noch nicht. Mit den Alpträumen fing es an, und mit dem Dösen unter Tags, mit dem Nichtwissen, welcher Tag gerade war, und sogar mit dem Nichtwissen welcher Monat. Die Geister der Vergangenheiten im Genick. Wo sich seine Geige befand wusste er längst nicht mehr. Manches Mal träumte er von seiner Frau, und davon, dass er sie eigentlich noch liebte, und er fragte sich, wo sich gerade sein könnte, vielleicht, oder ganz bestimmt, glücklicher als er. Er sah nach draußen, sah, dass es regnete, und wünschte sich, einzuschlafen für lange Zeit, am besten für hundert Jahre.

6
Träume davon, dass er in der Boogie - Street gewesen war. Davon, dass es immer ein geheimes Leben hinter dem wirklichen Leben gibt.
“Spiel für mich.” sagte der Junge in der Boogie- Street.
“Was soll ich spielen?” fragte Joseph und nahm seine Geige aus dem Kasten.
“Du weißt es besser als ich.” sagte der Junge, der auf einer Obstkiste saß und ihn mit wässrig blauen Augen ansah. Vielleicht zwölf, dreizehn Jahre, dachte sich Joseph, aber war nicht sicher. Er hätte zwanzig, dreißig oder hundert Jahre alt sein können.
“Ich habe dich gesucht.” flüsterte Joseph und spielte.
“Ich weiß.” sagte der Junge, nickte.
Die Boogie - Street war eine Straße voller Schatten. Eigentlich nur ein schmaler Weg, scheinbar kein Himmel darüber. Aus den Fenstern drang warmes Licht. Jemand, weit weg entfernt, sang ein altes Blues-Lied.
“Ich habe dich dreißig Jahre lang gesucht.” sagte Joseph, und selbst wenn er es gewollt hätte, wären seine Finger nicht stillgestanden.
“So ist es gut.” sagte der Junge und schloss für einen Moment seine Augen.
“Es ist das Ticken deines Herzens, es hat mich hergeführt.” sagte Joseph und lächelte.
7
Raucher lernte ihn in der zweiten Woche Einzelzimmer kennen. Sein Zustand hatte sich erheblich verschlechtert, er hatte aufgehört zu essen und zu trinken. Sie sprachen von einem präfinalen Zustand, und er konnte sich denken, was sie damit meinten. Irgendwie roch er schon nach Tod, eingecremt in seinem strahlend weißen Krankenhaushemd ohne Taschen, hinten offen, damit man ihnen die letzte Würde nahm. So ist der Mensch - der Mensch stellt sich über den anderen Menschen, bleibt Wärter und Wächter, egal, wo man auch hinging. Raucher stellte sein Essen auf den Tisch, das er nicht aß, und drehte ihn auf die andere Seite, begutachtete seinen Hautzustand, als Joseph sein Handgelenk umfasste, kräftig, und ihn an sich heranzog.
“Smoking every day, blue-blue...”, flüsterte Joseph und Raucher roch seinen Atem, der gerade wie aus einer tiefen kalten Gruft zu kommen schien. Wahrlich, der Tod war nicht mehr weit entfernt.
“Was?”
“Rauchen. Eine Zigarette. Mehr nicht, eine Zigarette. Ich rauche immer zur Musik!” antwortete der bleiche dürre Mann, mit den Augen, die so tief lagen, dass sie unheimlich aussahen, selbst wenn sie verschlossen waren.
Auf dem Flur liefen Besucher umher, suchten nach Vasen und nach Schwestern, waren eigentlich nicht hier und doch viel zu besorgt.
8
Raucher hatte nicht viele Freunde, jedenfalls nicht viele lebende Freunde. Tote kannte er viele, einige hatte er nur noch Minuten, Stunden, andere wieder über Wochen begleitet. Der einäugige Berger hatte im Laufe seines Sterbens acht Päckchen Zigaretten und zwei Zigarren von ihm bekommen. Für Albert Corner hatte er sogar eine Pfeife aus Meerschaum organisiert, die er später dann in die Jackentasche des toten Corners gesteckt hatte. Raucher besuchte alle Verstorbenen noch einmal in der Prosektur, der eiskalten Leichenhalle mit den acht Kühlfächern. Immer war er dort heimlich gewesen, immer auf der Hut, dass ihn niemand dabei sah, wenn er das Kühlfach aufzog und die eiskalte Blechwanne langsam herausrollen ließ, die Blicke aufmerksam, nie seinen Hut tragend. Raucher hatte immer eine Packung Zigaretten der Lieblingsmarke des Verstorbenen dabei, immer original verpackt. Er sah nach, ob wirklich die Augen verschlossen waren, was sie auch meistens waren, klopfte noch einmal auf die Schultern und schob die mitgebrachten Zigaretten in die Brusttaschen der angezogenen Anzüge. Wer auf die Reise ging, so dachte sich Raucher, muss wenigstens für die Dauer der Wartezeit etwas zum Rauchen bei sich haben. Und so war es für ihn selbstverständlich, die Leute nicht alleine zu lassen, und bei geöffnetem Fenster noch eine Zigarette zu rauchen.
9
In der Boogie - Street konnte sich das Blatt noch einmal wenden. So erzählte man es sich jedenfalls, und so wie es aussah, war es wirklich so.
“Es stimmt also?” fragte Joseph. Er spielte noch immer.
“Ja, es stimmt. Alles was man sich erzählt, stimmt.” sagte der Junge, und zum ersten Mal sah Joseph, dass sich seine Augenfarbe mit jedem Ton veränderten. Noch vor einer Sekunde waren sie schwarz gewesen, jetzt verwandelten sie sich in ein wunderschönes Grün. So grün wie die Wiesen in einem guten Sommer sein konnten.
“Ich habe von dir geträumt.”
“Manche träumen von mir, manche finden mich, manche sind immer noch auf der Suche. So ist das Leben.” sagte der Junge und lächelte.
“Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben.” sagte Joseph.
“Ich weiß.”
“Sie hat mich nie spielen gehört.”
“Ist das dein Wunsch?” fragte der Junge und Joseph nickte.
“Dann soll es so sein. Im geheimen Leben können im Winter die Bäume blühen.” sagte der Junge in der Boogie - Street und klatschte in die Hände.
Das tickende Herz des Jungen konnte für die Zeit ihres Zusammentreffens sämtliche Gespenster verjagen.
10
Joseph sah Raucher an, der Junge erinnerte ihn an einen Musiker, mit dem er  im Grünen Eck vor vielen Jahren gespielt hatte. Er mochte, wie er sprach. und dabei seinen Kopf ein wenig zur Seite neigte.
“Spielst du Musik, sag?”
“Ich - nein!” antwortete Raucher.
“Was ist nun  mit der Zigarette?”
“Ich weiß nicht. Die Schwestern wollen es nicht. Niemand will es.” flüsterte Raucher, und sah den Urin in den Katheterbeutel laufen.
“Morgen ist es zu spät. Morgen ist alles zu spät. Du weißt es.”
Und natürlich wusste er es. Nichts war klarer, nichts war unumstößlicher. Natürlich war es morgen zu spät.
Und weil Raucher den Tod am Bettrand sitzen sah, nahm er Joseph und brachte ihn in einen Rollstuhl.
“Nicht hier, nicht hier. Einmal, einmal mein Junge möchte ich noch draußen rauchen. Wie zuhause, wie nach einem Konzert. Wenn sie alle glücklich waren und man sie hören konnte durch den Bühnenvorhang, wenn man sie riechen konnte. Wenn man den Wind spüren konnte, als die Fenster geöffnet wurden.”
Raucher fragte eine Schwester, und sie wusste nicht recht, ließ sich aber doch überreden. Er fuhr ihn nach draußen auf den Balkon am Ende des Flurs und stellte ihn ganz nach rechts, so dass ihn niemand beim Rauchen zusehen konnte. Der Junge gab ihm eine Camel ohne Filter und zündete diese mit einem Zündholz an. Der Wind fuhr durch das graue wenige Haar des alten Mannes und zog heimlich an der Zigarette.
“Eine Jacke, Junge, eine Jacke. Es ist verdammt kalt hier.” bat Joseph und Raucher machte sich auf den Weg, um eine Jacke zu holen. Als Raucher zurückkam, war der Rollstuhl leer. Als Raucher nach unten blickte, sah er Joseph dort unten liegen, die Augen geschlossen. Die Gespenster des nahenden Winters  waren zu überlisten, keine Frage.
Und dabei hatte man Joseph nachgesagt, er könne sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Raucher wusste, dass die Musik in seinem Kopf nun alles andere als verklungen war, und er glücklicher sein würde, als wartend in einem Zimmer, das nicht hässlicher hätte sein können. Sah nach unten und wusste, dass dieser Mann alles und jeder hätte sein können.
Vielleicht war er es sogar.

 

 

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© Richard Lorenz